Montag, 17. März 2014

14: Der Linguist als Kampfrichter

Hallo, gute Leserin, hallo, guter Leser. In meinem Assessmentjahr zum Übersetzerstudium war ich nach einer Linguistikvorlesung derart inspirationsüberladen, dass ich etwas produzieren musste. Ich biete Ihnen an, sich diese Woche das entstandene Produkt anzusehen.

Imageshooting – wenn der Linguist zum Kampfrichter wird
Ein Konzept für eine Analysespielerei von Raphael Dorigo, Student Angewandte Linguistik

Wenn Menschen miteinander sprechen, dann kommt es regelmässig vor, dass sie einander in unangenehme Situationen bringen. Sie schränken mit ihren Sprechakten die Bewegungsfreiheit eines Teilnehmers ein oder greifen das Selbstbewusstsein einer Person an – bei anderen genauso wie bei sich selbst. Die Linguistik bezeichnet die Handlungsfreiheit als das „negative Gesicht“, das eigene, positive Selbstbild als das „positive Gesicht“ (im Englischen spricht man jeweils vom „image“). Die Sprechakte, mit denen man diese Gesichter angreift, nennt die Sprachwissenschaft „GBAs“ (Gesichtsbedrohende Akte). Da von Linguisten eine Formel entwickelt wurde, mit der man das Gefährdungspotenzial solcher GBAs beziffern kann, bietet es sich an, den Schaden, der den Gesichtern in einem Gespräch – zumindest theoretisch – zugefügt wird, zu messen und die „Leistungen“ der Gesprächsteilnehmer in dieser Hinsicht zu vergleichen.

Durchführung

Der Linguist nimmt ein Gespräch auf. Es empfiehlt sich eine Videoaufnahme, vor allem bei Gesprächen mit mehr als zwei Teilnehmern, damit Angreifer und Angegriffener jeweils sicher identifiziert werden können. Zudem ist so eine detailliertere Analyse möglich, da das Verhalten, die GBAs und die Reaktionen auf allen Kommunikationskanälen und auch im nonverbalen Bereich beobachtet werden können. Für eine simple Runde mit zwei Teilnehmern reicht eine Tonaufnahme aber gut aus. Die Aufnahme wird dann auf GBAs untersucht.

GBAs für Gegenüber
-Auf negatives Gesicht (Handlungsfreiheit): Befehlen, bitten, fragen, vorschlagen, mahnen, drohen, warnen, anbieten, versprechen, komplimentieren, Hass, Wut, Lust ausdrücken,Tabus/brisante Themen ansprechen etc.
-Auf positives Gesicht (positives Selbstbild): kritisieren, Geringschätzung äussern, tadeln, beleidigen, widersprechen, unterbrechen, keine Aufmerksamkeit schenken etc.

GBAs für sich selbst
-Auf negatives Gesicht:Angebot annehmen, Dankbarkeit ausdrücken, Dank oder Entschuldigung annehmen,auf einen Faux-pas reagieren oder nicht, unfreiwillig/erzwungene Versprechen/Angebote machen etc.
-Auf positives Gesicht:sich rechtfertigen, sich entschuldigen, sich demütigen, beichten/Schuld eingestehen, heftige, unkontrollierte Gefühlsausbrüche, Zusammenbruch physischer Körperkontrolle etc.

Die gesammelten Attacken werden jeweils mit einem Wert auf einer Skala von 1 bis 9 eingestuft, der die Summe W aus folgender Formel repräsentiert:

Soziale Distanz zwischen Gesprächspartnern (D, 0-3) + Macht des Hörers über den Sprecher (P, 0-3) + Sensibilität der jeweiligen Kultur auf derartige Akte (Rx,1-3), W = D+M+Rx
(Quellmaterial: Marcel Eggler, Vorlesung Linguistik 2, Studiengang Übersetzen am Institut für Übersetzen und Dolmetschen des Departements Angewandte Linguistik an der ZHAW Winterthur)

Beispiel: Zürich: Fritz fragt seinen guten Freund Hans, wie es ihm geht. Das ist eine Frage, also ein GBA für das negative Gesicht von Hans. Die soziale Distanz zwischen den beiden ist minim (0), Hans ist hierarchisch mit Fritz genau gleichgestellt (0) und in der Schweiz ist das kulturell ziemlich unproblematisch (1). Fritz fügt Hans also nur einen Schadenspunkt zu (0+0+1 = 1).

Auswertung
Nun gibt es verschiedene Arten, die Punktzahlen auszuwerten und einen Sieger zu bestimmen. Hier ein paar Varianten:

Das „death match“
Es gewinnt der, der dem Gegenüber mehr Schaden zugefügt hat.

Das „Pokémon battle“
Die Teilnehmer gehen mit einer bestimmten Anzahl an „Kraftpunkten“ ins Gespräch, die sie durch GBAs verlieren. Wer keine mehr hat, scheidet aus (seine Angriffe werden nicht mehr gewertet). Wer am Ende noch die meisten Kraftpunkte hat oder als einziger nicht besiegt wird, gewinnt.

Der pazifistische Ansatz
Sieger ist, wer dem Gegenüber am wenigsten Schaden zufügt.

Mögliche Probleme
Das Spiel ist noch nicht praxiserprobt. Schwierigkeiten könnten sich voraussichtlich folgendermassen zeigen:

-Es ist nicht immer klar, ob und inwiefern Sprechakte GBAs sind. Schränkt man nicht mit 
nahezu allem, was man jemanden sagt, seine Bewegungsfreiheit ein, weil eine bestimmte Reaktion erwartet wird? Die Bewertung ist immer schwierig und zwangsläufig subjektiv.

-Oft gibt es am laufenden Band Attacken auf die Gesichter, deswegen sollten die „Kämpfe“ aufgenommen werden. Ein Sprechakt kann auch verschiedene GBAs zur gleichen Zeit beinhalten.

-Wenn er ein Gesicht angreift, muss sich der Sprecher für eine Anwendungsstrategie entscheiden. Zunächst wählt die Person zwischen den Modi „offenkundig“ und „implizit“. Dazu kommt die Entscheidung zwischen „mit Kompensationsbemühungen“ und „ohne Kompensation“. Wählt man dabei ersteres, so muss man sich dann zwischen„positiver“ (Betonung der positiven Beziehung zwischen einander, Komplimente einbauen) und „negativer Höflichkeit“ (Floskeleinsatz) entscheiden. Eine komplexe Verwendungsstrategie erschwert es, einen GBA genau zu kategorisieren und einzustufen.

All das deutet darauf hin, dass es Sinn ergibt, das Feld der zu bewertenden GBAs einzuschränken – sei es auf die aufgeführte Liste der ZHAW oder auf eine noch engere Auswahl.


Weiterführende Gedanken
Spannend wird es, wenn man innerhalb eines bestimmten sozialen 

Umfelds genug Gespräche für ein Ranking aufnehmen kann, das man etwa nach durchschnittlich verursachtem Schaden aufstellt und so etwa den "gefährlichsten" und den "harmlosesten" Gesprächspartner der Gruppe bestimmt. Auch die Gegenreaktion auf eine Attacke wäre ein Faktor, dessen genauere Berücksichtigung hochspannend, aber auch sehr anspruchsvoll wäre. Zudem wäre es interessant, dem Angriffswert der GBAs eine Zahl hinzuzufügen, die sich aus der Bewertung des entstandenen Schadens ergibt; man versucht also aus der Reaktion des Angegriffenen abzuschätzen, wie verheerend der Angriff für das betroffene Gesicht tatsächlich war. Ausserdem wäre die Einführung von Kategorien und die Einteilung von Personen in diese denkbar.

Es stellt sich zudem eine ganz zentrale Frage beim Imageshooting: Wie hat ein wünschenswertes Gespräch diesbezüglich abzulaufen? Muss man auch mal ein Gesicht riskant angreifen, und wenn ja, wann? Oder muss Schadensbegrenzung dass ultimative Ziel sein? Es wäre allemal vernünftig, Imageshooting-Auswertungen allem Spass zum Trotz eher analytisch als schadenfreudig zu betrachten. 


Tja, Gespräche scheinen unter der Oberfläche etwas unglaublich Brutales zu sein. Aber auch etwas Unterhaltsames. Dann bis nächste Woche, wie ich hoffe.

-Der Sprachbeschreiber

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