Der Linguistik wird ja des öfteren vorgeworfen, dass sie das Gegenteil einer exakten Wissenschaft sei. Das stimmt weitgehend. Sprache lebt nun mal, und manchmal ist der Interpretationsspielraum bei der Analyse von Sprechakten sehr, sehr gross. Und das werden Sie jetzt gleich mal vorgeführt bekommen. Ich habe nämlich ein echt spannendes Graffito gefunden (Ja genau: "Graffiti" ist wie "Paparazzi" ein italienischer Plural, folglich gibt es strenggenommen einen Singular, der auf "o" endet)! Und zwar unter einer Brücke quasi direkt vor meiner Haustür. Da ich hier mit "Ich" den Sprachbeschreiber meine, ist es natürlich ein linguistisch interessantes Graffito, das fast schon nach einer semantischen (Bedeutungs-) Analyse schreit:
Das ist fast schon sowas wie die Schmiererei der unbegrenzten Möglichkeiten. Da kann sich der Hobbylinguist austoben. Ich habe hier ein paar Möglichkeiten der Deutung ausgearbeitet.
MÖGLICHKEIT 1: Benennungskritik
Ein Problem terminologischer Art: Das Fahrrad wird in der Schweiz "Velo" genannt. Das ist eine Abkürzung für den veralteten Begriff "Veloziped". Das kommt vom französischen "vélocipède" und das wiederum entstammt einer Kombination der lateinischen Wörter "velox" (schnell) und "pes" (Fuss). Und vielleicht wollte der Street Artist hier diese Bezeichnung kritisieren. Velos..? Na ja. Ist ein Fahrrad denn tatsächlich schnell? Ist es in Zeiten von Auto, Zug und Flugzeug1 nicht übertrieben, den Drahtesel als Fortbewegungsmittel mit hohem Tempo zu bezeichnen? Dürfen wir dem Gerät noch "Velo" sagen? Sollten wir nicht das wertneutrale "Fahrrad" übernehmen oder ein neues Wort entwickeln? Wake up, Switzerland!
1= Übrigens: Heutzutage dürfte man eigentlich nicht mehr von "modern" sprechen, da die Moderne eine abgegrenzte historische Periode war. Wir sind bereits in der Postmoderne, also wäre etwas zeitgenössisch-fortschrittliches rein theoretisch als "postmodern" zu bezeichnen. Ich spiele mit dem Gedanken, meinen Sprachgebrauch diesbezüglich anzupassen...
MÖGLICHKEIT 2: Hallooo, wo seid ihr?
Tiefste Nacht. Der kalte Wind lässt die Blätter rascheln, und graue Wolken ziehen am dunkelblauen Himmel dahin. Einsam stapft unser Street Artist durch die leeren Quartierstrassen. Irgendwann erreicht er eine Hauptstrasse. Brumm. Ein Auto. Brumm. Noch ein Auto. Brumm, brumm, brumm. Kein Klingeling. Nicht ein einziges Mal. Aufgewühlt zieht der kritische Künstler seine Spraydose hervor und schreibt seinen Weckruf an der Wand nieder: VELOS..? Gibt's die noch? Wo seid ihr hin, Fahrräder? Fährt denn hier jeder nur noch Auto? Ist das gut für unsere Gesellschaft?
MÖGLICHKEIT 3: Das geheime Akronym
Das Wort ist in Grossbuchstaben niedergeschrieben worden. Das lässt den Schluss zu, dass es sich um ein Akronym wie UBS oder NASA handelt. Was könnte gemeint sein?
Verein Echt Lustiger Ostschweizer Saunabesucher?
Voluminöser EidechsenLift Ohne Sicherungen?
Verteidigung Einzigartiger Lampenschirme Oft Sinnlos?
Vielseitige Elefanten Lassen Opa Sterben?
Bevor ich es wieder einmal zu weit treibe mit dem Interpretieren: Vielleicht hatte der Autor auch einfach nur bewusstseinserweiternde Substanzen intus. Oder war Anhänger der Kunstrichtung des Dadaismus. Oder beides. Falls er das hier liest, soll er sich doch bei mir melden, ich platze fast vor Spannung. Und Sie, liebe(r) Leser(in), sind natürlich auch dazu eingeladen, in den Kommentaren Ihre Interpretation darzulegen. Wir müssen diesem Problem auf den Grund gehen. Wir MÜSSEN, verstehen Sie? Wer weiss, was auf dem Spiel steht?!
-Der Sprachbeschreiber