Rang 10. Nicht nur die drei anderen Landessprachen, sondern ganze 6 weitere Varietäten werden in der Schweiz häufiger gesprochen. Zunächst war meine undifferenzierte Haltung: "Naja, wenn das keiner mehr benutzt, dann lasst es halt sterben." Die habe ich eigentlich immer noch. Ich musste allerdings einen kritischen Kommentar verfassen. Und beim Planen fand ich plötzlich Gefallen an der Vorstellung, mich gegen das Verschwinden der rätoromanischen Sprache auszusprechen. Ich schrieb und schrieb, ich schrieb mich in einen regelrechten Rausch, und ich bin durchaus glücklich mit dem reisserischen Text, der am Ende entstanden war. Bitte sehr:
Die
Zahlen zeigen es unmissverständlich: Die rätoromanische Sprache fristet
mittlerweile ein beispielloses Aussenseiterdasein – sogar in ihrem Heimatkanton
Graubünden. Welche Überlegungen löst diese Entwicklung bei kritischen Denkern
aus? Im Folgenden ein Kommentar, der versucht, aufzuzeigen, was dabei auf dem Spiel steht, und welche
Gefahren der Dynamik hinter diesem Prozess innewohnen.
Es lebe der Pragmatismus
Das Rätoromanische befindet sich auf dem Rückzug. Langsam verabschiedet
es sich aus der Welt, wie der Röhrenfernseher, das Handy mit Tastatur und
vielleicht sogar das Bankgeheimnis. Bei letzterem allerdings wird erbittert
gegen das Verschwinden angekämpft. Es handle sich immerhin um ein Schweizer
Markenzeichen, eine wertvolle Einzigartigkeit, auf die wir stolz sein könnten.
Etwas, das die Schweiz zu dem mache, was sie sei – regelrechtes Kulturgut! So
etwas ist doch schützenswert, nicht? Anscheinend nicht immer.
Ist das Rumantsch etwa kein „echtes Stück Schweiz“, kein
kostbares Einzelstück, das einen nicht unerheblichen Farbton zu unserer bunten
Kulturlandschaft beiträgt? Offenbar wird dieses Thema mit grosser
Gleichgültigkeit und viel Pragmatismus behandelt. Nehmt lieber Deutsch, das ist
praktischer. Bringt euren Kindern kein Rätoromanisch bei, das sorgt nur für
Verwirrung und hat keinerlei praktischen Nutzen. Man muss sich ganz einfach fragen:
Ist eine Sprache nicht mehr als ein Werkzeug für Kommunikation? Ist sie nicht
Kultur, Identität, ein Stück Heimat?
Wenn die Leute eine Sprache zum Mittel zum Zweck herabstufen
und letztlich dazu bereit sind, sie der
Einfachheit halber aussterben zu lassen, dann ist das bedenklich. Das Regime
des spanischen Diktators Francisco Franco erhob seinerzeit das Kastilische zur
einzigen Landessprache und untersagte die Verwendung aller übrigen Varietäten. Die aktuellen Entwicklungen scheinen zu einer
unbewusst voranschreitenden Ausrottung des Rätoromanischen zu führen, die in ihren
Auswirkungen letztlich einem Verbot nahezu gleichkäme.
Entwicklungen wie diese, der die Bündner Sprache zum Opfer zu
fallen droht, sind charakteristisch für die Megatrends der Zukunft, die sich
heutzutage am stärksten in der Technik zeigen: Miniaturisierung,
Funktionsintegration – es muss alles schneller, einfacher, unkomplizierter
gehen. Denken Sie an Geräte wie das iPhone. Es vereint auf engstem Raum ein
Telefon, einen Taschenrechner, einen MP3-Player, eine Fotokamera und noch
vieles mehr. Man braucht weniger Geräte und hat mehr Platz. So zeigen sich
diese Trends in der Technik. Es besteht nun die Tendenz, dass diese ihren
Einfluss im grossen Stil ausweiten und auch andere Bereiche des menschlichen
Lebens beeinflussen. So gerät über kurz oder lang die kulturelle Vielfalt in
die Schusslinie, in diesem Fall die sprachliche Diversität – sie erhöht den
Aufwand für Kommunikation und somit auch den Aufwand in allen Bereichen, in
denen kommuniziert wird. Eine Reduktion aufs Deutsche würde den Trends
entsprechend vieles einfacher, praktischer gestalten. Daraus könnte dem Rätoromanischen
diese Bedrohung erwachsen sein, die sich schleichend vergrössert hat. Bald ist
es wahrscheinlich zu spät für Rettungsaktionen.
Möglicherweise wird die Germanisierung des Bündnerlandes in
absehbarer Zeit nicht mehr zu bremsen sein. Wie geht es dann weiter? Man könnte
dann irgendwann auch darauf kommen, dass das Französische und das Italienische
dem Deutschen in der Schweiz im Weg stehen. Wenn diese beiden abgeschafft
wären, könnte man zum Beispiel endlich Schluss machen mit all den unübersichtlichen
dreisprachigen Produktbeschriftungen! Und wozu braucht jeder deutschschweizerischer
Dialekt seine eigenen, charakteristischen Ausdrücke? Ein
Vereinheitlichungsprogramm würde vieles vereinfachen. Irgendwann wäre die
Schweiz dann ein wahrhaft einheitliches, unkompliziertes Land. Tod der
Vielfalt, es lebe der Pragmatismus.
Was für eine aufregende Vision! Ist es das, was wir letztlich anstreben,
worauf unsere gesamte Kultur hinarbeitet, bewusst oder unbewusst? Niemand
scheint diese Frage zu stellen. Die Antwort könnte erschreckend ausfallen. Beschäftigen
wir uns mit dem Problem des übersteigerten Pragmatismus, und fangen wir am
besten gleich exemplarisch bei der Bedrohung des Rätoromanischen an. Es gibt
ein Kulturgut zu retten und zugleich noch etwas über die postmoderne
Gesellschaft zu lernen.
Denken Sie drüber nach. Meinungen in den Kommentaren sind erlaubt.
-Der Sprachbeschreiber